Einführung
Es mag im ersten Moment verwundern, dass der Beginn der NS-Zeit hier auf 1932 datiert wird und nicht wie allgemein üblich auf den 30. Januar 1933. Tatsächlich gewann die NSDAP im Freistaat Oldenburg, zu dem auch der Landesteil Lübeck mit der Hauptstadt Eutin gehörte, bereits bei der Landtagswahl am 29. Mai 1932 die Mehrheit der Sitze. In der Folge wurde der Eutiner SA-Führer Heinrich Böhmcker, der bereits seit 1931 im Oldenburger Landtag saß, zum Regierungspräsidenten mit Sitz in Eutin ernannt. Die NS-Zeit beginnt in Eutin also mehr als sechs Monate vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler.
Bereits bei seinem Amtsantritt im Juli kündigt Böhmcker die rücksichtslose Bekämpfung aller derjenigen an, die sich gegen die Politik der NSDAP stellen. Viele der späteren Entwicklungen im Deutschen Reich werden hier bereits vorweggenommen, so zum Beispiel die Ausschaltung politischer Gegner, die Bewaffnung von SA-Männern und ihr Einsatz als Hilfspolizei sowie die Gleichschaltung von Verwaltung und Polizei. Der kanadische Historiker Lawrence D. Stokes, von dem alle wesentlichen Forschungsergebnisse zur Eutiner Stadtgeschichte in der NS-Zeit stammen, bezeichnet Eutin daher auch als „Hochburg“ und „Probebühne des Dritten Reiches“ .
Die frühen Erfolge der NSDAP im Freistaat Oldenburg und insbesondere im Landesteil Lübeck lassen sich zum einen durch die Sozialstruktur in der Region erklären. Es gab in Eutin und der näheren Umgebung keine größeren Industriebetriebe, und die meist in Kleinbetrieben beschäftigten Arbeiter waren kaum gewerkschaftlich oder parteipolitisch organisiert. Außerdem gehörte die Bevölkerung fast ausschließlich der evangelischen Kirche an, und tatsächlich hat kein anderes Sozialmerkmal den Erfolg der Nationalsozialisten bei den Wahlen in der Weimarer Republik so stark beeinflusst wie die Zugehörigkeit zur protestantischen Konfession.
Hinzu kamen die von den lokalen Parteiführern mit großem propagandistischem Geschick und brutaler Gewalt geführten Wahlkämpfe. Der SA-Führer und spätere Regierungspräsident Heinrich Böhmcker sowie der Eutiner Ortsgruppen- und Kreisleiter der NSDAP, Dr. Wolfgang Saalfeldt, erreichten durch wirkungsvolle Propagandaaktionen (z. B. motorisierte Stern- und Staffelfahrten, ständige Aufmärsche von uniformierter SA, groß inszenierte Auftritte führender Vertreter der NSDAP) sowie große Brutalität bei Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern eine hohe Sichtbarkeit in der lokalen Presse . Außerdem gelang es ihnen bereits früh, Eliten und Meinungsführer, z. B. Lehrer an den höheren Schulen, einzubinden. Dies alles zusammen erklärt zumindest zum Teil, wie es dazu kam, dass sich ausgerechnet Eutin zu einer frühen Hochburg der NSDAP entwickelte.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Eutin dann Ende April 1945 kurz vor Kriegsende für wenige Tage sogar zum Sitz der verbliebenen Reichsregierung wurde. Von einer Regierungstätigkeit im engeren Sinn konnte zu diesem Zeitpunkt allerdings keine Rede mehr sein. Das aus Berlin geflüchtete Rumpfkabinett tagte hier im Gebäude der heutigen Kreisverwaltung (ausführlich bei Station 11) , während der spätere Nachfolger Hitlers, Großadmiral Dönitz, sein Hauptquartier nahe Plön bezog, ehe er sich Anfang Mai nach Flensburg-Mürwik absetzte. Fast ebenso bizarr vollzog sich die „Eroberung“ Eutins durch die Alliierten am 4. Mai 1945. Auf dem Weg nach Kiel machten drei so gut wie unbewaffnete Angehörige einer Presseeinheit der britischen Armee Halt auf dem Eutiner Marktplatz, wo ihnen herbeigeeilte NS-Vertreter prompt die Stadt übergaben.
Eutin eignet sich aus mehreren Gründen besonders gut, die Geschichte des Nationalsozialismus anhand eines Stadtrundgangs nachzuzeichnen. Die Stadt wurde im Zweiten Weltkrieg nicht zerstört, so dass viele Spuren und Orte erhalten sind, vor allem das Gebäudeensemble um den Marktplatz. Außerdem lässt sich in Eutin die rasante Dynamik der Machteroberung der Nationalsozialisten sozusagen im Kleinen sehr gut und anschaulich nachvollziehen. Die Zerschlagung der Opposition, die Verhaftung und Verschleppung politischer, aber auch persönlicher Gegner, die Entfernung unliebsamer Beamter aus ihren Ämtern und ihre Ersetzung durch NS-Anhänger , die Auflösung der anderen Parteien sowie die Gleichschaltung von Vereinen und die Übernahme der städtischen Infrastruktur , dies alles findet sich parallel zum Geschehen im Reich auch in der Kleinstadt Eutin. Aufgrund der frühen Machtübernahme der NSDAP im Freistaat Oldenburg und im Landesteil Lübeck wird hier sogar vieles vorweggenommen, was dann erst Monate später im ganzen Reich geschieht. Lawrence D. Stokes, zitiert im Titel eines seiner Werke aus dem großen Roman Hans Falladas über eine norddeutsche Kleinstadt in der Weimarer Republik: „Meine kleine Stadt steht für tausend andere …“ , und er trifft damit genau, warum sich gerade Eutin so besonders anbietet, die Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland vor allem in den Anfängen nachzuzeichnen.
