9 Wohnhaus der jüdischen Familie Nathan
Albert-Mahlstedt-Straße 20
In Eutin gab es zwei alteingesessene jüdische Familien, von denen 1933 nur noch die beiden älteren Frauen Jenny Nathan und ihre verwitwete Schwägerin Alice zurückgeblieben waren. Der Familie gehörte dieses Haus in der August-Mahlstedt-Straße 20 (damals Auguststraße). Die beiden Schwägerinnen waren in der NS-Zeit vielfältigen Schikanen ausgesetzt. Alice Nathan gelang es, im April 1939 nach Paris zu entkommen, wo sie mit falschen Papieren überlebte. Die 85jährige Jenny Nathan wurde im Dezember 1940 ausgehungert und bewusstlos in ihrem unbeheizten Haus aufgefunden. Sie starb wenige Tage später im Krankenhaus und wurde auf dem Jüdischen Friedhof begraben. Vor dem Haus liegen zwei der drei Stolpersteine Eutins.
Juden bildeten im Landesteil Lübeck und in Schleswig-Holstein nur einen verschwindend geringen Teil der Bevölkerung. In Eutin lebten zwei alteingesessene jüdischen Familien, nämlich die Familie Würzburg, die eine kleine Bürsten- und Pinselfabrik in der Weidestraße besaß, und die Familie Nathan, deren Vorfahren 1801 aus Moisling nach Eutin übergesiedelt waren. Von diesen Familien blieben nur die beiden älteren Frauen Jenny Nathan (geb. 1856) und ihre verwitwete Schwägerin Alice (geb. Caro, geboren 1871 in Paris) in Eutin zurück. Nach der amtlichen Zählung gab es 1936 unter einer Einwohnerschaft von annähernd 9.000 Personen nur sechs Juden, nämlich außer den Schwägerinnen Nathan nach der entsetzlichen NS-Terminologie noch zwei getaufte „Geltungsjuden“ und zwei „Mischlinge“.
Da es in Eutin keine erkennbar jüdischen Geschäfte und keine Synagoge gab, entging die Stadt größeren antijüdischen Ausschreitungen beim sogenannten Geschäftsboykott vom 1. April 1933 sowie den euphemistisch als „Reichskristallnacht“ bezeichneten Novemberpogromen von 1938. Mitte September 1935 wurden die sogenannten „Nürnberger Rassengesetze“ erlassen, mit denen die pseudorechtliche Grundlage für die Ausgrenzung und Verfolgung der Juden in Deutschland geschaffen wurde. Bereits im Vorfeld kommt es in Eutin zu antisemitischen Aktionen. Der kleine jüdische Friedhof, der bis heute im Eigentum der Familie Nathan ist, wird geschändet, was im Eutiner Stadtmagistrat in einer Sitzung am 6. August 1935 allerdings verurteilt wird. Der Friedhof wurde dann seitens der Stadt wieder hergerichtet.
Kurz darauf stiftete ein im Nebenhaus wohnender SA-Obersturmführer eine Demonstration vor dem Haus der Familie Nathan in der damaligen Auguststraße 20 an. Die beiden alten Frauen sollten dadurch wohl noch mehr als ohnehin eingeschüchtert werden, so dass der Nachbar das Haus günstig erwerben könnte. In dem lokalen Zeitungsanzeiger erscheint dazu ein Hetzartikel unter dem Titel: „Das Maß war voll: Demonstration gegen die Judenbagage Nathan“.
Nach dem Attentat auf den Diplomaten Ernst Eduard vom Rath, der im November 1938 in Paris von Herschel Grynszpan erschossen wurde, wurde den Juden in Deutschland eine Strafsteuer auferlegt. Anfang 1939 werden auch Jenny und Alice Nathan gezwungen, eine Vermögensabgabe als „Sühneopfer“ zu zahlen. Allein für Alice Nathan war die Abgabe, die 20 Prozent des Vermögens betrug, auf 5.200 RM festgesetzt worden, die in Teilbeträge von je 1.300 RM zu zahlen war. Außerdem mussten jüdische Deutsche sich jetzt anhand ihrer Vornamen kenntlich machen und zusätzlich den Vornamen „Israel“ oder „Sara“ annehmen. Alice Nathan gelingt es im April 1939 unter Zurücklassung ihres gesamten Hab und Guts zu ihrem Sohn nach Paris zu entkommen, wo sie mit Hilfe eines gefälschten Ausweises überlebt.
Jenny Nathan bleibt alleine in Eutin zurück, wo sie in der Folge vielfältigen Schikanen ausgesetzt ist. Mitte Dezember 1940 wird die 85-Jährige völlig ausgehungert und bewusstlos in ihrem unbeheizten Haus aufgefunden. Wenige Tage später, am 29. Dezember, stirbt sie im Eutiner Krankenhaus. Ihr Leichnam wird ungeachtet des jüdischen Religionsverbots eingeäschert und vom Propst der evangelischen Landeskirche Wilhelm Kieckbusch auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt. Ihr Hausrat wird ebenso wie der ihrer ausgewanderten Schwägerin beschlagnahmt und
1941 auf Anweisung der Gestapo versteigert oder auch an Bombengeschädigte in Eutin und Kiel verteilt. Vor dem damaligen Wohnhaus der Familie Nathan liegen zwei der drei Stolpersteine in Eutin und erinnern an die Schwägerinnen Jenny und Alice Nathan.
